Mein Leben in einer Intensiv-WG
Wie findet man die richtige Unterbringung für sich oder einen chronisch schwer kranken Menschen, den man liebt? Wer hilft überhaupt bei einem Intensivpflegebedarf bzw Beatmungspflegebedarf? Worauf muss man achten bei der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Einrichtung? Wie die selbstbestimmte Intensivpflege funktioniert und was man mit guter Versorgung alles an Fähigkeiten zurückerlangen kann, erzählt hier aus erster Hand eine, die sich auskennt: Birgit wurde durch eine seltene neurologische Immunerkrankung im Jahre 2006 buchstäblich über Nacht zum Schwerstpflegefall. Sie hat aber mit gezielten Therapien, viel Geduld und noch mehr innerer Stärke ihre Lebensqualität und Unabhängigkeit zurückgewonnen. Sie lebt in einer Wohngemeinschaft für Intensivpflege in Berlin Tegel. Hier hat sie ihr eigenes Zimmer und lebt ganz autark – unterstützt vom Pflegedienst. Ihre Geschichte macht Mut und gibt Tipps, wie man das richtige Angebot findet.
Schritt für Schritt zurück ins Leben!
Ich bin Birgit, 52 Jahre alt und gebürtige Berlinerin. Seit drei Jahren lebe ich in einer Betreuten Intensiv-WG in Berlin Tegel und werde vom Pflegedienst RENAFAN intensivpflegerisch versorgt. Die spezialisierte medizinische Versorgung ist aber nur das eine, wichtig ist ja auch das soziale Leben, das hier wirklich gefördert wird.
Meine Erkrankung
begann eines Morgens im August 2006. Zu dem Zeitpunkt lebte ich in Hamburg. Ich bin aufgewacht, aufgestanden und gleich wieder zusammengebrochen. Meine Beine waren wie Pudding, ich hatte überhaupt kein Gefühl mehr in meinem Körper. Aus dem Nichts heraus. Ich habe dann meinen Freund anrufen können und der hat die Feuerwehr gerufen. Ich wurde ins Altonaer Krankenhaus gefahren. Ich konnte mich ein Dreivierteljahr lang überhaupt nicht bewegen, nur ein, zwei Zentimeter die Beine und Arme heben, mehr ging nicht. Keiner wusste damals, wie mir zu helfen war. Irgendwann hat ein Arzt ein Video von mir gemacht und in ein Online-Forum gestellt, in dem Ärzte sich austauschen. Ein Ärzteteam aus England hat das Krankheitsbild wiedererkannt. Der medizinische Fachbegriff für meine Erkrankung lautet „Progrediente Encephalomyelitis mit Rigidität und Myoklonien“: PERM-Syndrom. Es handelt sich um eine Unterform einer seltenen Autoimmunerkrankung, die auch „Stiff person syndrome“ genannt wird, das „Steife-Person-Syndrom“ (SPS). Das ist die Erkrankung, unter der auch Celine Dion leidet. Bei mir fiel die Akutphase sehr, sehr stark aus. Chronische Entzündungen des Hirns und des Rückenmarks zogen eine starke Versteifung der Muskulatur nach sich, auch in der Lunge, sodass ich beatmet werden musste.
Meine Akutphase
Nach einer viermonatigen Immunglobulintherapie konnte ich mich endlich wieder aufsetzen, mich alleine waschen und alles. Nur der schiefe Kopf blieb und die Schiefstellung der Füße, da haben sich die Sehnen nicht mehr zurückentwickelt. Ich kann zwar stehen für kurze Zeit, aber nicht laufen. Daher sitze ich im Rollstuhl und bin beatmet.
Meine Anpassung
an die Folgen der Erkrankung ging eigentlich gut. Was will man auch machen!? Ich war froh, dass ich mich überhaupt wieder bewegen konnte! Auch wenn alles natürlich ganz anders war als vorher: Mit der Beweglichkeit kam auch mein Leben zurück. Nachdem ich im Rollstuhl saß, hatte ich große Probleme auch mit dem Essen und Trinken, ich hatte über ein Jahr lang nicht gesprochen und konnte mich nur schriftlich ausdrücken. Ich musste ganz von vorne anfangen.
Wieder Sprechen und Essen lernen
Das logopädische Training begann in einer Intensiv-Einrichtung in Gut Wienebüttel. Anfangs standen nur Vokalübungen und Betonungen an, um die Höhen und Tiefen der Stimme wieder zu trainieren. Dann kamen kurze zweisilbige Wörter dazu, die wiederum gesteigert wurden, bis es ganze Sätze waren. Nach einem halben Jahr konnte ich mich wieder alleine unterhalten. Darauf baute das Schlucktraining auf. Man braucht die Kehlkopfhebung ja dafür, und die wird durch das Sprechtraining wieder gefestigt. Es hat ein weiteres halbes Jahr gedauert, bis ich endlich pürierte Kost essen konnte. Durch den schiefen Hals liegen bei mit Luftröhre und Speiseröhre sehr eng aneinander, daher esse ich bis heute so.
Die Beatmungsstunden reduzieren
Die Anpassung an die künstliche Beatmung war eigentlich leicht, aber es hat lange gedauert, bis ich die Beatmungsentwöhnung so weit hatte, dass ich mich wirklich wieder sicher fühlte. Schritt für Schritt, erst minutenweise, dann immer länger war ich im Weaning (Beatmungsentwöhnung) vom Beatmungsgerät getrennt und habe meine Lunge an die selbstständige Atmung durch den Sprechaufsatz gewöhnt. Jetzt komme ich vormittags viele Stunden auch ohne die Beatmungsmaschine aus. Aber nachmittags und auch nachts, wenn ich mich hinlege, lasse ich mich anschließen, weil ich beim Schlafen Atemaussetzer habe. Das wurde im Schlaflabor festgestellt.
Rollstuhl fahren will gelernt sein!
Nach meinem Aufenthalt im Krankenhaus bin ich zur Kur nach Leetzen. Da habe ich auch Unterricht bekommen, wie ich mit dem Rollstuhl fahren kann. Der war so breit! Am Anfang bin ich überall gegengefahren! Damals hatte ich auch noch nicht diesen schönen elektrischen Rollstuhl wie heute. Mit dem kann ich allein fahren, das ist ganz wichtig für die Selbstständigkeit.
Mein Alltag
sieht so aus: Zwischen acht und neun Uhr kommt das Personal, dann beginnt der Tag. Ich dusche jeden Morgen, selbstständig, da brauche ich nur jemanden zum Mobilisieren und zum Rücken- und Beine abtrocknen. Dann bin ich bis ca. 12.45 im Rollstuhl und bastele, bekomme Besuch von meinen Freundinnen oder gehe einkaufen mit dem Personal. Oder wir spielen was. Meine Medikamente bekomme ich über die Magensonde, über die ich mich auch hauptsächlich ernähre. Ich kann zwar essen, aber nur sehr kleine Mengen, weil mein Magen sehr empfindlich geworden ist. Ich hatte auch schon Krebs, und nach der Chemotherapie und Strahlentherapie funktionierte mein Magen nicht mehr so wie vorher.
Freizeit aktiv gestalten
Das Sprechen mit dem Sprechaufsatz ist anstrengend, aber funktioniert ganz gut. Das Freizeitangebot ist vor Corona immer sehr gut gewesen hier, ich hoffe, das wird bald wieder losgehen. Es gibt mindestens einen festen Ausflug im Monat und gemeinsames Kochen und Backen. Jeden ersten Freitag im Monat ist gemeinsames Frühstücken, Personal und BewohnerInnen. Plus individuelle Wunschausflüge. Im Moment ist das alles leider nicht möglich. Nachmittags bin ich im Bett, weil es mich doch anstrengt im Rollstuhl. Ich schaue Fernsehen, spiele auf dem Handy Solitaire oder Rästelspiele. Und ich bastele sehr gern, mache z. B. die Fensterbilder für die ganze Station, jahreszeitlich orientiert. Im Moment bearbeite ich das Thema „Bauernhof im Herbst“. Ich hasse kahle Wände und gestalte hier die Station gern ein bisschen mit!
Gute Kontakte zum Pflegeteam
Ich habe sehr gute Kontakte zum Pflegeteam, das macht immer Spaß. Ich komme gut zurecht hier mit meiner Situation. Wenn ich mir was wünschen könnte, würde ich mir zwei Sachen wünschen: dass Corona endlich vorbei ist und wir hier wieder etwas mehr Personal haben. Dann könnten wir auch wieder Reisen machen, zum Beispiel nach Hamburg. Da gibt es ja auch eine WG, in der RENAFAN pflegt, und da habe ich schon mal Urlaub gemacht, das war toll. Und mein größter Wunsch wäre: einmal nach Disneyland in Paris! Mein Lieblingscharakter ist Elliot. Ich bin zufrieden mit meiner Situation, ich kann viel machen, bekomme Besuch von meinen Freundinnen und Tanten. Rausgehen kann ich aber nur mit dem Personal, weil das Lungensekret ja abgesaugt werden muss, ich bin ja absaugepflichtig. Das können meine Freundinnen nicht versorgen. Meine Eltern sind leider schon verstorben.
Meine Stationen vorher
Von Leetzen nach Gut Wienebüttel, da war ein Pflegeheim, sehr idyllisch, rundum nur Wald. Aber 80 km von Hamburg entfernt und keine Bahnverbindung. Also schlecht erreichbar für meine Freundinnen, die waren ja alle noch berufstätig, hatten also wenig Zeit, und meine Familie war ja auch noch in Berlin. Meine Eltern kamen alle vier Wochen übers Wochenende, das war natürlich auf Dauer nichts, daher haben wir einen Platz in Berlin gesucht und auch gefunden, zunächst bei Pro Seniore, dann hier.
Die richtige Einrichtung finden
Für mich war die Unterbringung in einem eigenen Zimmer sehr wichtig. Nach den vielen Jahren der Erfahrung mit Einrichtungen für Beatmungspflege
kann ich sagen, dass für mich bei der Wahl eines Platzes folgende Kriterien entscheiden: Erstens Therapien und Freizeitangebote, denn gerade mit Intensivpflegebedarf kann und will man einiges erreichen! Aktivierende Langzeitpflege mit allen Therapien kann die Lebensqualität wirklich stark verbessern. Zweitens Hygiene, darauf sollte man wirklich auch achten. Drittens Lage der Intensiv-WG oder Intensivpflegestation. Hier natürlich auch die Erreichbarkeit, aber das kommt darauf an, wie die Beziehungen und die Familien organisiert sind.
Therapien müssen passen
Ein Problem ist oft, einen Platz für Intensivpflege zu finden, der auch Jüngere nimmt und wirklich regelmäßige Therapien anbietet. Ich hatte Logopädie, Physiotherapie und Ergotherapie. Im Moment mache ich aber nur Physio, weil die Zeiten nicht passen. Da ich aber auch jetzt so viel schon kann, trainiere ich quasi, indem ich meine Fähigkeiten einfach einsetze. Das ist sowieso das Beste: einfach sein Leben leben!