Global Adipositas
Es ist die „stille“ Pandemie unserer Zeit mit bisher kaum verstandenen Konsequenzen auch für Pflegende: die Adipositas .
Hier finden Sie hilfreiche Links zum Thema Adipositas :
Stiftung GesundheitsWissen – Was ist Adipositas?
Deutsche Adipositas Gesellschaft – Alles rund um das Thema Adipositas
Zentrum für Adipositas und metabolische Chirurgie im Vivantes Klinikum Berlin-Spandau
Leseprobe zum Fachbuch „Adipositas- und metabolische Chirurgie“ von Jürgen Ordemann und Ulf Elbelt
RKI Gesundheitsmonitoring zum Thema Übergewicht und Adipositas
„Neue Spritzen gegen Übergewicht“ – hier den Artikel der tagesschau.de lesen
Podcast „FettUcation“ von Serdar Deniz auf Spotify
650 Millionen. Eine Zahl, die fast an die Einwohnerzahl Europas heranreicht (746 Millionen). Stellen wir uns also unseren ganzen Kontinent vor, von Sizilien bis Spitzbergen, Alpenpanoramen, Strände, tiefe Wälder, hohe Ebenen. Und es sind nur extrem dicke Menschen da. Nicht bisschen zu viel auf den Rippen: Menschen mit einem BMI von über 35. Männer, Frauen, Kinder. So sieht es derzeit aus, weltweit – vielleicht sogar schlimmer, denn die Zahl ist aus 2016, aktuellere scheint es zumindest global nicht zu geben. Erstaunlich, denn das Problem ist massiv, und es wird immer schlimmer. 1,9 Milliarden Menschen haben Übergewicht, Menschen mit Adipositas inklusive. Inzwischen ist Normalgewicht in Deutschland die Minderheit. Wie hoch die Zahl ausfällt, kommt darauf an, welche Studie man zitiert. Nach der Lesart des RKI gelten 67 % der Männer und die Hälfte (53 %) der Frauen hierzulande als zu dick (BMI über 25). Ein Viertel von ihnen ist adipös (BMI größer als 30) oder extrem adipös (also BMI über 40).
Sie leiden unter Diabetes Typ II, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Leberzirrhose, Gelenkerkrankungen, Tumorerkrankungen und, und, und. Sie sind oft sozial isoliert, fühlen sich eigentlich permanent schuldig und schämen sich. Für ihr Aussehen und für all das, was die Gesellschaft ihnen unterstellt.
Die Zuschreibungen, die sie in ihrem Kopf ständig wiederholen, lauten: faul, dumm, gefräßig, ekelhaft. Dies führt oftmals zu Vermeidungsstrategien, Rückzug und Isolation bis hin zur Depression. Physiologisch ist das viele Fett eine tickende Zeitbombe. Die Ärzte sagen ihnen: Nehmen Sie ab, dann geht es Ihnen besser! Nach der Diät kommt der JoJo-Effekt – und damit noch mehr Schuld, noch mehr Kilos, noch mehr Beschwerden. Die Ärzte, die Umwelt, sie selbst fordern von sich: mehr Disziplin, neuer, anderer Versuch.Und so geht das in der Regel jahrzehntelang. Bis jemand versteht: Das funktioniert nicht. Dann führt der Weg in ein spezialisiertes Zentrum für Adipositas oder zu einer spezialisierten diabetologischen Praxis. Für viele wird dieser Moment zu einer bahnbrechenden Erfahrung. Die Menschen hören zum ersten Mal Sätze wie: 'Adipositas hat nichts mit Willensschwäche zu tun' oder 'Es geht nicht nur um die Energiebilanz'. Sie erfahren, dass sie nicht selbst schuld sind. Sie lernen, dass sie genauso wenig dünn werden können wie der depressive Mensch glücklich. Weil da etwas im Gehirn falsch reguliert ist. Und mit dieser Erkenntnis, ganz langsam, beginnt der Weg in die gesündere Zukunft.
„Quick fix“ Magenbypass?
Einer der prominentesten Wegbereiter dieser gesunden Zukunft heißt Prof. Dr. med. Jürgen Ordemann. Er ist Chefarzt und Leiter des Zentrums für Adipositas und metabolische Chirurgie am Vivantes Klinikum Berlin Spandau. Wer ihm zuhört oder sein Fachbuch liest, bekommt einen ganz neuen Eindruck von dieser globalen Fettkrankheit. Die medizinischen Experten sind rar, ebenso wie Fachleute bei den Kassen. Die Ursachen werden oftmals viel zu oberflächlich betrachtet.
Selbst wenn die PatientInnen sich bereits durch viele Diäten und Kuren gequält haben – also „konservative“ Therapien der Adipositas , Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und Verhaltenstherapie bereits versagt haben:
Kostenübernahmen von Medikamenten „zur Reduktion von Körpergewicht“ sind per Gesetz verboten. Und operative Lösungen sind immer die „Ultima ratio“, auch sie werden nur sehr zurückhaltend bewilligt. Denn die Rechtsprechung verlangt eine besondere Rechtfertigung für nicht kausale Therapien, also für Eingriffe in „gesunde“ Organe. Dabei sind der Magen und die gesamte Verstoffwechslung von Nahrung bei adipösen Menschen alles andere als gesund, sondern sind integraler Teil für die Aufrechterhaltung des gesteigerten krankhaften Körpergewichts. Inzwischen denken einige Kassen um, z. B. die DAK. Hier wurde verstanden, dass man dem Problem anders begegnen muss und die „Umerziehung“ bei einem überwältigenden Teil der Betroffenen versagt. Natürlich sind die Eingriffe weder einfach noch für jede/n geeignet. Aber hinter der Zurückhaltung bei der Bewilligung liegt auch eine protestantische Leistungsethik. Die Behandlungsstrategien der modernen metabolischen Chirurgie (z. B. der Magenbypass oder der Schlauchmagen) gelten als „Quick fix“ – als allzu bequeme Abkürzung quasi. Die Logik dahinter ist ganz einfach und beherrscht das Denken über Dicke: Das Essen ist das Problem, nicht das Dicksein.

Mikrobiom signifikant verändert
Jede/r, der jemals eine strenge Diät gemacht hat, weiß, wie zermürbend es ist, dauerhaft hungrig zu leben. Adipositas -Betroffene, die sehr, sehr viel abnehmen müssen, stehen davor für den Rest ihres Lebens. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit können sie nie „normal“ essen. Darauf weisen sowohl Studien als auch Tierversuche hin. Bei Menschen mit Adipositas gibt es bei Hormonen und Botenstoffen, die Hunger und Sättigung regulieren, als auch dem Mikrobiom im Darm signifikante Veränderungen. Verabreicht man gesunden, schlanken Ratten beispielsweise diese Mikrobiome, werden sie in kürzester Zeit dick. Adipositas ist in Fachkreisen längst nicht mehr nur die Frage des „richtigen Ernährens“.
Essen, das hungrig macht
Übergewicht ist auf die Art und Menge der Lebensmittel zurückzuführen, die der Mensch konsumiert. Aber warum wird der eine dick und der andere nicht? Der Stoffwechsel und die Regulierung von Hunger und Sättigung sind hochkomplexe Prozesse, genetisch determinierte und erlernte, die besonders negativ von westlicher Ernährungsweise beeinflusst werden. Das Kalorienangebot klassischer Fertigprodukte ist meist viel zu dicht, bei einem Zuwenig an gesunden Inhaltsstoffen, Vitaminen, Mineralstoffen, Ballaststoffen. Es entstehen Teufelskreise: „Craving“-Situationen, in denen der Blutzuckerspiegel trotz reichlich vorhandener Kalorien plötzlich absackt und der Organismus Hungeralarm auslöst, sodass wieder reingeschaufelt wird.
Immerhin: Das Wissen über falsches und richtiges Essen verbreitet sich global schnell. Es gibt fast überall Aufklärungskampagnen und gesetzliche Eingriffe, die der Lebensmittelindustrie mit ihrem „mehr, aber billiger“ einen Riegel vorschieben wollen. Die gestiegenen Lebensmittelpreise, gerade für frische und natürliche Lebensmittel sind ein echtes Hindernis für einkommensschwache Haushalte. Hier muss dringend eine Gesetzgebung verstehen, dass sie es ist, die die Globaladipositas aufhalten kann.
1. Adipositas -Fachtag der RENAFAN Akademie
Die RENAFAN Akademie lud am 11.05.2023 zum Adipositas-Fachtag, um den fachlichen Austausch mit erfahrenen Klinikern (Prof. Dr. med. Jürgen Ordemann, Interview s. unten), Kostenträgern und der Pflege bzw. Hilfsmittelversorgung zu fördern. Die absehbare Zunahme von schwer übergewichtigen KundInnen fordert ein Zusammenspiel von allen an der Pflege Beteiligten. Heute sind bereits mindestens ein Viertel der Pflegeaufnahmen in stationären Einrichtungen übergewichtig, in der ambulanten Pflege sind die Zahlen noch höher. Die Pflegenden sind auf adipöse Menschen (noch) kaum vorbereitet. Ab einem BMI von 40 kann ein Pflegebedürftiger nicht mehr adäquat von einer Pflegeperson allein versorgt werden. Es braucht dann bereits zwei Personen, um bspw. die Mobilisierung, aber auch die Körperpflege zeitlich angemessen und in hoher Qualität durchführen zu können. Spezialisierte Hilfsmittel sind erforderlich. Die Vielzahl, die bereits jetzt mit entsprechender Kostenübernahme verfügbar sind, stellte Marc Drieghe, Vertriebsleiter des Home-Care-Anbieters medisani vor. Ein breites Spektrum an angepassten Rollstühlen, Hebevorrichtungen, Lagerungshilfen steht bereit, um die Grundpflege zu erleichtern.
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Auch sehr durchdachte Hilfsmittel wie kleine Gelenkschutzkissen, die für die Dekubitusprophylaxe geeignet sind, stießen beim Fachpublikum auf großes Interesse. Ausführliche Hilfsmittelberatung in der Ursprungs-Häuslichkeit, auch zu Maßnahmen der Wohnungsanpassung, wird von medisani abgedeckt. Auch Gemeinschaftseinrichtungen, wie z. B. Pflegeheime, können auf diese Kompetenz zurückgreifen.
Fokus auf „advanced nursing“
Die größten Herausforderungen für Pflegende bei der Versorgung von schwer adipösen Menschen liegen in der Wundbehandlung, vor allem, wenn ein Diabetes vorliegt. Die Pflege der Haut und die Lagerung sind Schlüsselthemen. Es gilt auch, Tabus zu überwinden und die Pflegenden in Ernährungsberatung zu schulen, sodass sie auch bei dieser Thematik eine Stütze für die Betroffenen werden können. Vielfach „trauen“ sich die Pflegenden nicht, dieses Thema anzuschneiden. Herr Benjamin Schubert, Leitung der RENAFAN Akademie, hob in seinem Vortrag die Bedeutung der Weiterqualifikation nach dem angloamerikanischen Vorbild der „Advanced Nursing Practice“ hervor. Durch die Übernahme erweiterter Handlungsaufträge, z. B. fokussiert auf die Versorgung des Diabetes, chronischer Wunden, Hypertonus und anderer typischer Begleiterkrankungen der Adipositas könnte die Pflege dieser Patientengruppe deutlich verbessert werden und auch die Pflegenden sicherer im Alltag werden. Viele Pflegende haben Bedenken vor der Pflegeübernahme, ob sie den Herausforderungen, die bei der Versorgung von Menschen mit schwerer Adipositas auftreten können, gewachsen sind. Zu Recht, denn es braucht Erfahrung und viel Fachwissen – und ein multifokales Pflegeverständnis.

Unsere „adipogene“ Umwelt, also der Mix aus dickmachenden Lebensmitteln, fehlender Bewegung und psychischen Stressoren führt für immer mehr Menschen zu einer schweren chronischen Erkrankung. Warum tun wir uns so schwer damit, sie angemessen zu behandeln?

Sebastian, Leiter der Selbsthilfegruppe „Gesund statt rund“ Tempelhof-Schöneberg, ist seit einem Jahr mit einem Magenbypass versorgt. Er erzählt im Interview, wie er nach jahrzehntelanger Odyssee den richtigen Weg fand, um seine Adipositas-Erkrankung zu besiegen. Seine Geschichte macht Mut.