• Adipositas in der Pflege

650 Millionen Menschen mit Adipositas weltweit650 Millionen. Eine Zahl, die fast an die Einwohnerzahl Europas heranreicht (746 Millionen). Stellen wir uns also unseren ganzen Kontinent vor, von Sizilien bis Spitzbergen, Alpenpanoramen, Strände, tiefe Wälder, hohe Ebenen. Und es sind nur extrem dicke Menschen da. Nicht bisschen zu viel auf den Rippen: Menschen mit einem BMI von über 35. Männer, Frauen, Kinder. So sieht es derzeit aus, weltweit – vielleicht sogar schlimmer, denn die Zahl ist aus 2016, aktuellere scheint es zumindest global nicht zu geben. Erstaunlich, denn das Problem ist massiv, und es wird immer schlimmer. 1,9 Milliarden Menschen haben Übergewicht, Menschen mit Adipositas inklusive. Inzwischen ist Normalgewicht in Deutschland die Minderheit. Wie hoch die Zahl ausfällt, kommt darauf an, welche Studie man zitiert. Nach der Lesart des RKI gelten 67 % der Männer und die Hälfte (53 %) der Frauen hierzulande als zu dick (BMI über 25). Ein Viertel von ihnen ist adipös (BMI größer als 30) oder extrem adipös (also BMI über 40).

BMI Rechner

Hier geht's zum BMI Rechner (DAG e. V.)

Sie leiden unter Diabetes Typ II, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Leberzirrhose, Gelenkerkrankungen, Tumorerkrankungen und, und, und. Sie sind oft sozial isoliert, fühlen sich eigentlich permanent schuldig und schämen sich. Für ihr Aussehen und für all das, was die Gesellschaft ihnen unterstellt.

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Die Zuschreibungen, die sie in ihrem Kopf ständig wiederholen, lauten: faul, dumm, gefräßig, ekelhaft. Dies führt oftmals zu Vermeidungsstrategien, Rückzug und Isolation bis hin zur Depression. Physiologisch ist das viele Fett eine tickende Zeitbombe. Die Ärzte sagen ihnen: Nehmen Sie ab, dann geht es Ihnen besser! Nach der Diät kommt der JoJo-Effekt – und damit noch mehr Schuld, noch mehr Kilos, noch mehr Beschwerden. Die Ärzte, die Umwelt, sie selbst fordern von sich: mehr Disziplin, neuer, anderer Versuch.Und so geht das in der Regel jahrzehntelang. Bis jemand versteht: Das funktioniert nicht. Dann führt der Weg in ein spezialisiertes Zentrum für Adipositas oder zu einer spezialisierten diabetologischen Praxis. Für viele wird dieser Moment zu einer bahnbrechenden Erfahrung. Die Menschen hören zum ersten Mal Sätze wie: 'Adipositas hat nichts mit Willensschwäche zu tun' oder 'Es geht nicht nur um die Energiebilanz'. Sie erfahren, dass sie nicht selbst schuld sind. Sie lernen, dass sie genauso wenig dünn werden können wie der depressive Mensch glücklich. Weil da etwas im Gehirn falsch reguliert ist. Und mit dieser Erkenntnis, ganz langsam, beginnt der Weg in die gesündere Zukunft.

„Quick fix“ Magenbypass?

magenbypass

Einer der prominentesten Wegbereiter dieser gesunden Zukunft heißt Prof. Dr. med. Jürgen Ordemann. Er ist Chefarzt und Leiter des Zentrums für Adipositas und metabolische Chirurgie am Vivantes Klinikum Berlin Spandau. Wer ihm zuhört oder sein Fachbuch liest, bekommt einen ganz neuen Eindruck von dieser globalen Fettkrankheit. Die medizinischen Experten sind rar, ebenso wie Fachleute bei den Kassen. Die Ursachen werden oftmals viel zu oberflächlich betrachtet.

Selbst wenn die PatientInnen sich bereits durch viele Diäten und Kuren gequält haben – also „konservative“ Therapien der Adipositas , Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und Verhaltenstherapie bereits versagt haben:

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Kostenübernahmen von Medikamenten „zur Reduktion von Körpergewicht“ sind per Gesetz verboten. Und operative Lösungen sind immer die „Ultima ratio“, auch sie werden nur sehr zurückhaltend bewilligt. Denn die Rechtsprechung verlangt eine besondere Rechtfertigung für nicht kausale Therapien, also für Eingriffe in „gesunde“ Organe. Dabei sind der Magen und die gesamte Verstoffwechslung von Nahrung bei adipösen Menschen alles andere als gesund, sondern sind integraler Teil für die Aufrechterhaltung des gesteigerten krankhaften Körpergewichts. Inzwischen denken einige Kassen um, z. B. die DAK. Hier wurde verstanden, dass man dem Problem anders begegnen muss und die „Umerziehung“ bei einem überwältigenden Teil der Betroffenen versagt. Natürlich sind die Eingriffe weder einfach noch für jede/n geeignet. Aber hinter der Zurückhaltung bei der Bewilligung liegt auch eine protestantische Leistungsethik. Die Behandlungsstrategien der modernen metabolischen Chirurgie (z. B. der Magenbypass oder der Schlauchmagen) gelten als „Quick fix“ – als allzu bequeme Abkürzung quasi. Die Logik dahinter ist ganz einfach und beherrscht das Denken über Dicke: Das Essen ist das Problem, nicht das Dicksein.

Mikrobiom

Mikrobiom signifikant verändert

Jede/r, der jemals eine strenge Diät gemacht hat, weiß, wie zermürbend es ist, dauerhaft hungrig zu leben. Adipositas -Betroffene, die sehr, sehr viel abnehmen müssen, stehen davor für den Rest ihres Lebens. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit können sie nie „normal“ essen. Darauf weisen sowohl Studien als auch Tierversuche hin. Bei Menschen mit Adipositas gibt es bei Hormonen und Botenstoffen, die Hunger und Sättigung regulieren, als auch dem Mikrobiom im Darm signifikante Veränderungen. Verabreicht man gesunden, schlanken Ratten beispielsweise diese Mikrobiome, werden sie in kürzester Zeit dick. Adipositas ist in Fachkreisen längst nicht mehr nur die Frage des „richtigen Ernährens“.

Essen, das hungrig macht

Übergewicht ist auf die Art und Menge der Lebensmittel zurückzuführen, die der Mensch konsumiert. Aber warum wird der eine dick und der andere nicht? Der Stoffwechsel und die Regulierung von Hunger und Sättigung sind hochkomplexe Prozesse, genetisch determinierte und erlernte, die besonders negativ von westlicher Ernährungsweise beeinflusst werden. Das Kalorienangebot klassischer Fertigprodukte ist meist viel zu dicht, bei einem Zuwenig an gesunden Inhaltsstoffen, Vitaminen, Mineralstoffen, Ballaststoffen. Es entstehen Teufelskreise: „Craving“-Situationen, in denen der Blutzuckerspiegel trotz reichlich vorhandener Kalorien plötzlich absackt und der Organismus Hungeralarm auslöst, sodass wieder reingeschaufelt wird.

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Immerhin: Das Wissen über falsches und richtiges Essen verbreitet sich global schnell. Es gibt fast überall Aufklärungskampagnen und gesetzliche Eingriffe, die der Lebensmittelindustrie mit ihrem „mehr, aber billiger“ einen Riegel vorschieben wollen. Die gestiegenen Lebensmittelpreise, gerade für frische und natürliche Lebensmittel sind ein echtes Hindernis für einkommensschwache Haushalte. Hier muss dringend eine Gesetzgebung verstehen, dass sie es ist, die die Globaladipositas aufhalten kann.

fast food

1. Adipositas -Fachtag der RENAFAN Akademie

 

fachtag adipositasDie RENAFAN Akademie lud am 11.05.2023 zum Adipositas-Fachtag, um den fachlichen Austausch mit erfahrenen Klinikern (Prof. Dr. med. Jürgen Ordemann, Interview s. unten), Kostenträgern und der Pflege bzw. Hilfsmittelversorgung zu fördern. Die absehbare Zunahme von schwer übergewichtigen KundInnen fordert ein Zusammenspiel von allen an der Pflege Beteiligten. Heute sind bereits mindestens ein Viertel der Pflegeaufnahmen in stationären Einrichtungen übergewichtig, in der ambulanten Pflege sind die Zahlen noch höher. Die Pflegenden sind auf adipöse Menschen (noch) kaum vorbereitet. Ab einem BMI von 40 kann ein Pflegebedürftiger nicht mehr adäquat von einer Pflegeperson allein versorgt werden. Es braucht dann bereits zwei Personen, um bspw. die Mobilisierung, aber auch die Körperpflege zeitlich angemessen und in hoher Qualität durchführen zu können. Spezialisierte Hilfsmittel sind erforderlich. Die Vielzahl, die bereits jetzt mit entsprechender Kostenübernahme verfügbar sind, stellte Marc Drieghe, Vertriebsleiter des Home-Care-Anbieters medisani vor. Ein breites Spektrum an angepassten Rollstühlen, Hebevorrichtungen, Lagerungshilfen steht bereit, um die Grundpflege zu erleichtern.

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Auch sehr durchdachte Hilfsmittel wie kleine Gelenkschutzkissen, die für die Dekubitusprophylaxe geeignet sind, stießen beim Fachpublikum auf großes Interesse. Ausführliche Hilfsmittelberatung in der Ursprungs-Häuslichkeit, auch zu Maßnahmen der Wohnungsanpassung, wird von medisani abgedeckt. Auch Gemeinschaftseinrichtungen, wie z. B. Pflegeheime, können auf diese Kompetenz zurückgreifen.

Fokus auf „advanced nursing“

Die größten Herausforderungen für Pflegende bei der Versorgung von schwer adipösen Menschen liegen in der Wundbehandlung, vor allem, wenn ein Diabetes vorliegt. Die Pflege der Haut und die ­Lagerung sind Schlüsselthemen. Es gilt auch, Tabus zu überwinden und die Pflegenden in Ernährungsberatung zu schulen, sodass sie auch bei dieser Thematik eine Stütze für die Betroffenen werden können. Vielfach „trauen“ sich die Pflegenden nicht, dieses Thema anzuschneiden. Herr Benjamin Schubert, Leitung der RENAFAN Akademie, hob in seinem Vortrag die Bedeutung der Weiterqualifikation nach dem angloamerikanischen Vorbild der „Advanced Nursing Practice“ hervor. Durch die Übernahme erweiterter Handlungsaufträge, z. B. fokussiert auf die Versorgung des Diabetes, chronischer Wunden, Hypertonus und anderer typischer Begleiterkrankungen der Adipositas könnte die Pflege dieser Patientengruppe deutlich verbessert werden und auch die Pflegenden sicherer im Alltag werden. Viele Pflegende haben Bedenken vor der Pflegeübernahme, ob sie den Herausforderungen, die bei der Versorgung von Menschen mit schwerer Adipositas auftreten können, gewachsen sind. Zu Recht, denn es braucht Erfahrung und viel Fachwissen – und ein multifokales Pflegeverständnis.

ordemann
Evolutionär gesehen war eine Gewichtsreduktion immer nur mit Krankheit und Mangel verbunden.
Prof. Dr. med. Jürgen Ordemann
Chefarzt des Zentrums für Adipositas und metabolische Chirurgie
Prof. Dr. med. Jürgen Ordemann
Chefarzt des Zentrums für Adipositas und metabolische Chirurgie
Adipositaschirurgie – mehr als nur Gewichtsreduktion

Unsere „adipogene“ Umwelt, also der Mix aus dickmachenden Lebensmitteln, fehlender ­Bewegung und psychischen Stressoren führt für immer mehr Menschen zu einer schweren chronischen Erkrankung. Warum tun wir uns so schwer damit, sie angemessen zu behandeln?

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Herr Professor Ordemann, über 18 Millionen Menschen in Deutschland gelten als adipös (BMI > 30). Was bedeutet das im Alltag für die Betroffenen?

Für die Betroffenen bedeutet das häufig sehr viel Leid, zumal adipöse Patienten in vielen Fällen dramatische Folgeerkrankungen entwickeln können, die nicht nur die Lebensqualität vermindern, sondern auch die Lebenszeit verkürzen können. Darüber hinaus werden adipöse Patienten häufig stigmatisiert, was für die Betroffenen schmerzlich ist.

 

Klassische Folgeerkrankungen der Adipositas sind z. B. Diabetes, Herz-Kreislauf, Fettleber, Depressionen und auch Tumorerkrankungen. Wie hoch schätzen Sie die damit verbundenen Behandlungskosten?

Die Behandlungskosten der Adipositas bedingten Folgeerkrankungen sind enorm hoch und belasten das Gesundheitssystem erheblich. Die Kosten werden auf mehr als 60 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Somit entfallen rund 8 Prozent der Gesundheitsausgaben auf die Behandlung von Erkrankungen, die mit Adipositas assoziiert sind.

Demgegenüber wird für die Therapie der Adipositaserkrankung selbst, also der Ursache dieser Folgeerkrankungen, nur sehr wenig Geld aufgebracht. Das ist nicht nur schade, das ist vor allem eine Katastrophe für die Betroffenen und ein Desaster für unser Gesundheitssystem!

 

Ist es so, dass ich mich „süchtig“ machen kann, indem ich beispielsweise zuviel Fastfood aufnehme?

Ich vermeide den Begriff „Sucht“ im Zusammenhang auf die weltweite Zunahme der Adipositaserkrankung. Der Begriff „Sucht“ wird der komplexen Erkrankung Adipositas nicht gerecht.

Grundsätzlich liegen bei adipösen Patienten häufig Störungen zentraler Gewichtsregulationsprozesse vor, die durch industrielle Ernährung, also Fastfood, aber auch durch Faktoren wie Stress, Überbelastung und ­Depressionen hervorgerufen werden können. Die Kombination von „dickmachenden“ Umweltfaktoren und einer individuellen genetischen Prädisposition führen dazu, dass das eigene Körpergewicht kaum noch kontrolliert werden kann.

 

Warum ist Abnehmen so schwer?

Das Körpergewicht zu reduzieren, stellt sich gegen das biologische System des Gewichtserhalts! Eine gewollte Gewichtsreduktion (Diät) ist in der langen Geschichte der Menschheit nicht vorgesehen und in der Natur mit einem „negativen“ Signal verbunden. Evolutionär gesehen war eine Gewichtsreduktion immer nur mit Krankheit und Mangel verbunden. Damit ist eine „Diät“ tatsächlich eine biologische Herausforderung, die sehr positive Effekte haben kann. Bei schwer adipösen Patienten dagegen ist diese Herausforderung leider mit einem ständigen „Kampf“ verbunden. Betroffene Patienten können davon ein Lied singen.

 

Da muss man aber auch lange weg­schauen, bevor man so viel Gewicht zugelegt hat …

Die Entwicklung von Normalgewicht zu Übergewicht und schließlich zu Adipositas ist ein schleichender Prozess. In den meisten Fällen handelt es sich um eine jahrzehntelange Leidensgeschichte und eine Aneinanderkettung von Diäten und Rückschlägen, den JoJo-Effekt. Je höher das Körpergewicht schließlich ansteigt, um so stärker gewinnt die Erkrankung eine „Eigendynamik“ und ein „zurück“ ist dann kaum noch möglich!

 

Wie sinnvoll ist es, adipöse Menschen in „konservative“ Therapien zu schicken, Abnehmprogramme, die meist einer bariatrischen OP vorausgehen müssen?

Konservative Therapien sind grundsätzlich immer hilfreich und notwendig. Sie sollten aber nicht als Voraussetzung für eine bariatrische Therapie gefordert werden. Die bariatrische Chirurgie wird von den Krankenkassen immer noch als „Ultima Ratio Therapie“ ­angesehen und das spiegelt nicht den aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand wider.

 

Wie denken wir denn in Deutschland über die Erkrankung?

Vorurteile gegenüber adipösen Menschen sind in Deutschland leider eine weitverbreitete Realität. Adipositas ist eben eine sichtbare Erkrankung und lässt sich nicht verbergen. Somit sind die Patienten ungeschützt den Vorurteilen der Außenwelt ausgesetzt. Unglücklicherweise finden wir diese Vorurteile nicht nur in weiten Kreisen der Bevölkerung, sondern auch im Gesundheitssystem, bei den politischen Entscheidungsträgern und den Krankenkassen. Diese sehr unangenehme Tatsache ist nicht nur für die Betroffenen furchtbar, sondern dadurch wird eine notwendige Therapie nicht nur erschwert, sondern auch verzögert. In Ländern wie zum Beispiel der Schweiz oder auch in Holland scheint mir dieses Problem nicht so ausgeprägt zu sein.

 

Es kommt also auf das Land an?

Sehr richtig, die Versorgung und Therapie der Adipositaserkrankung ist in anderen Ländern deutlich besser. Die restriktive Genehmigungspraxis der Krankenkassen in Deutschland führt dazu, das bariatrische Eingriffe im internationalen Vergleich deutlich seltener und häufig leider auch zu spät durchgeführt werden.

 

Wie ist der Therapiepfad für bariatrische Chirurgie in Deutschland?

Eine bariatrische Operation soll und darf nicht einfach mal eben durchgeführt werden. Da dieser Eingriff einen sehr großen Effekt auf die Lebensrealität von Patienten hat, muss dieser auch sehr gut vorbereitet sein. Nach den sogenannten S3-Leitlinien müssen Patienten vor einer Operation eine Ernährungsberatung und eine Bewegungstherapie durchgeführt haben. Auch eine psychologische Stellungnahme und spezielle Laboruntersuchungen sind erforderlich. Patienten, die besonders adipös sind, also zum Beispiel einen BMI von 50 kg/m2 und mehr haben, kann dieser Pfad verkürzt werden.

 

Wie schätzen Sie die derzeit sehr gehypten Medikamente „Ozempic“ und „Wegovy“ ein?

Ein Hype ist immer mit Vorsicht zu betrachten. Trotzdem muss festgestellt werden, dass diese neuen Medikamente ein „Game-changer“ darstellen. Sie werden vielen übergewichtigen und adipösen Menschen helfen ihr Gewicht zu kontrollieren. Das Besondere an diesen Medikamenten ist, dass sie an der Pathologie bzw. Biologie der Gewichtsregulation ansetzen. Sie ahmen ein Darmhormon nach, das GLP1, welches eine Veränderung des Hunger- und Sättigungsgefühls auslöst. Allerdings können diese Medikamente auch erhebliche Nebenwirkungen haben, die unbedingt berücksichtigt werden müssen.

 

Aber die Kassen zahlen sie nicht für die Abnehmtherapie …

Sehr richtig, der Lifestyle-Paragraf 34 SGB V verhindert, dass die Krankenkassen diese Therapie bezahlen müssen. Die Krankenkassen sind darüber erleichtert, da sie dadurch nicht gefordert werden. Für die betroffenen Patienten ist das allerdings ein weiteres Problem. Es zeigt erneut, dass Adipositas „nur“ als Lifestyle-Problem angesehen wird und nicht als eine Erkrankung. Jetzt ist es ganz wichtig, dass der Gesetzgeber hier eine Änderung der Gesetzeslage (§ 34) beschließt.

 

Auch die Kostenübernahmen für bariatrische OP’s werden nur ungern bewilligt, weil es sich um ein „gesundes“ Organ handelt, das operiert wird. Sind die Entscheidungsträger blind?

Nein, die Entscheidungsträger sind nicht blind und sie wissen über die segensreichen Effekte der Adipositaschirurgie gut Bescheid. Und trotzdem werden den betroffenen Patienten „Hürden“ auferlegt, die den Einsatz dieser Operation erschweren. Ich empfinde das tatsächlich als „unterlassene Hilfeleistung“.

 

Ist denn die Operation immer ein Erfolg?

In den meisten Fällen ist die Operation ein sehr großer Erfolg. Das gilt sowohl für die Gewichtsreduktion, als auch für die Verbesserung der Folgeerkrankungen. Dabei muss man wissen, dass die Reduktion des Gewichtes nicht das Ergebnis eines kleineren Magens ist. Der Hauptwirk­mechanismus der Adipositaschirurgie ist eine neurophysiologische Umstellung des Hunger- und Sättigungsgefühls, so dass eine Diät nicht mehr als „Kampf“, sondern als Normalzustand empfunden wird. Das ist für die Patienten ein Segen! Aber jeder Patient muss auch wissen, dass die Adipositaserkrankung eine chronische Erkrankung ist und, dass die Erkrankung durch eine Operation nicht geheilt werden kann. Adipositas neigt zu „Rezidiven“ und das Gewicht kann nach einer Operation auch wieder ansteigen.

 

Was passiert nach der OP?

Im optimalen Fall erhalten Patienten nach einer Operation eine lebenslange Nachbetreuung. Je intensiver die Nachbetreuung, um so besser das Ergebnis der Operation und um so geringer die Gefahr, dass das Gewicht wieder ansteigt. Leider wird auch die Nachbetreuung in Deutschland nicht finanziert, so dass auch hier ein erhebliches Defizit vorliegt.

 

Man hat den Verdacht, dass hier eine Diskriminierung fortgesetzt wird, die auch die Gesellschaft noch weitgehend beherrscht.

Da haben Sie recht. Wenn Adipositas auf individuelles Fehlverhalten zurückgeführt wird, dann steigen auch abschätzige und aggressive Äußerungen im Alltag. Stigmatisierungserfahrungen, Depressionen und vermindertes Selbstvertrauen verstärken übrigens die Adipositaserkrankung zusätzlich, ein Teufelskreis, der kaum zu durchbrechen ist.

 

Wie wäre es mit mehr Prävention?

Prävention ist immer gut und eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Erkrankungen erst gar nicht entstehen. In Bezug auf die Adipositaserkrankung benötigen wir tatsächlich eine nationale, am besten eine europäische Kraftanstrengung, die „Vergiftung“ der Bevölkerung durch Zucker zu verringern und die „Verführungen“ einer ungesunden Ernährung zu beseitigen. Dabei spielt Bildung natürlich eine ganz entscheidende Rolle.

Ich befürchte allerdings, dass Verhaltensänderungen erst dann erreicht werden können, wenn bestimmte „Zügel“ etwas angezogen werden, wie zum Beispiel eine „Zuckersteuer“ und ein Werbeverbot für ungesunde Nahrungsmittel.

 

Herr Professor Ordemann, vielen Dank für das Gespräch!

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sebastian
Bis ich verstanden habe, dass meine Krankheit eigentlich die ist, dass ich nicht abnehmen kann, vergingen Jahre.
Sebastian
Leiter der Selbsthilfegruppe „Gesund statt rund“ Tempelhof-Schöneberg
Sebastian
Leiter der Selbsthilfegruppe „Gesund statt rund“ Tempelhof-Schöneberg
„Es wurde immer nur festgestellt: Ändere dich!“

Sebastian, Leiter der Selbsthilfegruppe „Gesund statt rund“ Tempelhof-Schöneberg, ist seit einem Jahr mit einem Magenbypass versorgt. Er erzählt im Interview, wie er nach jahrzehntelanger Odyssee den richtigen Weg fand, um seine Adipositas-Erkrankung zu besiegen. Seine Geschichte macht Mut.

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Sebastian, fangen wir indiskret an: Wie viel wiegen Sie momentan?

Ich habe im Januar die 90 kg-Grenze unterschritten, seit mindestens 40 Jahren zum ersten Mal, und bewege mich jetzt bei ca. 85 kg. Das heißt, ich habe seit der OP 36 kg verloren.

 

Wie geht es Ihnen damit?

Angefangen damit, dass mein Diabetes sich so weit zurückgebildet hat, dass ich kein Insulin mehr brauche, viel beweglicher und wieder sportlich aktiv bin, über die Auswahl an Bekleidung, die ich jetzt in den Geschäften habe, bis hin zu einem völlig neuen Lebensgefühl: ich fühle mich in jeder Hinsicht „leichter“ in meinem Leben!

 

Was war ausschlaggebend für diesen erfolgreichen Weg?

Da gibt es mehrere Aspekte. Am wesentlichsten ist der Kontakt zum Adipositas-Zentrum, den ich 2009 im Zuge einer dreijährigen Körpertherapie aufnehmen konnte. Damit eröffnete sich die Möglichkeit, mir chirurgisch helfen zu lassen. Zunächst mit einem Magenband 2010. Das musste ich aber wieder entblocken lassen aufgrund von Problemen mit der Speiseröhre. Am 27.04.2022 habe ich dann, deutlich coronaverzögert, mit einem Ausgangsgewicht von 122 kg den Magenbypass bekommen und seitdem keinerlei Probleme mehr. Allerdings habe ich mich auch sehr genau an die Anweisungen gehalten, das ist entscheidend für den Therapieerfolg.

 

Wie ging das los, das Problem mit dem Gewicht?

Ich war nie normalgewichtig. Als Nesthäkchen mit zwei Geschwistern, einer alleinerziehenden und sehr klammernden Mutter und einer Dorfkindheit am Rande des Taunus hatte ich viele Funktionen, die ich für andere erfüllen musste. Ich stand eigentlich immer unter Beobachtung. Essen war so ziemlich das Einzige, das nicht reglementiert war bei uns. Das Übergewicht half mir, wie eine Art Panzer.

 

Wann haben Sie verstanden, dass Ihr Essverhalten Sie krank macht?

Der eigentliche Leidensweg begann im Alter von knapp 18 Jahren bei der Musterung. Ich wog etwa 105 kg bei einer Größe von 1,80 m. Das klingt vielleicht nicht so dramatisch. Aber man fand heraus, dass ich bereits an essenzieller Hypertonie litt. Später kamen Diabetes II und eine koronare Herzerkrankung dazu. Mit diesen Diagnosen in der Tasche begann meine Reise durch die medizinischen Institutionen.

 

Was haben die Ärzte geraten?

Klar: Abnehmen! „Wenn Sie abnehmen, sind Sie kerngesund.“ Das habe ich wieder und wieder gehört. Bis ich verstanden habe, dass meine Krankheit eigentlich die ist, dass ich nicht abnehmen kann, vergingen Jahre.

 

Was hat das für Sie bedeutet?

Diäten, JoJo-Effekt, ständige Versagensängste, Schuldgefühle, Scham. Viele Jahre habe ich Ärzte gemieden. Rückblickend war das mit das Schwierigste und auch eine der maßgeblichen Hindernisse auf dem Weg: die Sicht der Ärzte auf die Adipositas und auch meine innere Sicht auf die Erkrankung.

 

Wie haben Sie denn darüber gedacht?

Ich habe gedacht, ich bin selbst schuld, und ich habe natürlich all die Vorurteile und Diskriminierungen auf mich angewendet, die die Gesellschaft übergewichtigen Menschen entgegenbringt: Dicke sind dumm, faul und gefräßig. Das ging so weit, dass ich mich nicht getraut habe, in der U-Bahn etwas zu essen. „Was frisst die fette Sau auch noch ’ne Laugenbrezel!“ – So dachte ich, was die anderen wohl denken. Es war ein Spießrutenlauf, die ganze Zeit, ununterbrochen.

 

Haben Sie Diskriminierungen erlebt?

So ganz offen: nein. Aber natürlich denken die Leute, was sie denken. Und es spielt keine Rolle, ob die Diskriminierung von außen oder von innen kommt. Das Problem ist im Kopf. Sowohl in meinem als auch in denen der anderen. Auch wenn heute mehr Sensibilität in der Gesellschaft entsteht, ist es doch nach wie vor so, dass die meisten Leute glauben: Wer dick ist, ist selbst schuld, hat keine Selbstkontrolle und so weiter.

 

Ist das denn nicht ein Stück weit so?

Es ging mir beim Essen gut, und dann verselbstständigt sich was, das stimmt schon. Beim Essen war da in mir endlich etwas, da war ich. Warum ich mit diesen so grundlegenden Wahrnehmungen Schwierigkeiten hatte – das musste und konnte ich therapeutisch aufarbeiten. Essen war für mich eine Sucht, genauso wie Alkohol, Tabletten, Drogen. Aber eben auch ein Schutz, der mich durch viele Krisen gebracht hat. In bestimmten Lebenssituationen hatte es auch Vorteile, dick zu sein. Irgendwann lernte ich das zu akzeptieren.

 

Die Akzeptanz als Startschuss?

Ja. Es war okay, so zu sein. Ich musste nicht erst dünn werden, damit es mir gut gehen darf. Das ermöglichte mir neue Schritte, wie jetzt auch: Ich kann versuchen anderen zu helfen, ihren Weg da raus zu finden. Denn die gesundheitlichen Folgen sind gravierend, in der Gegenwart wie in der Zukunft: Im Alter bezahlbare, ambulante Pflege zu finden beispielsweise, ist, denke ich mal, insbesondere für adipöse Menschen sehr, sehr schwierig.

 

Warum ist das so?

Weil sich das niemand „antut“, allein die Hebearbeit, dann die Multimorbidität, die mit Adipositas einhergeht. Nicht zuletzt: Auch unter Pflegekräften wird es viele geben, die keine Dicken mögen. Da herrschen die gleichen Vorurteile in den Köpfen. „Die sollen erstmal abnehmen, dann vielleicht“ – Pflege reproduziert da, mit Ausnahmen natürlich, die vorherrschende Meinung in der Gesellschaft, selbst der Krankenkassen und Ärzte. Das erklärt auch die Unterversorgung der Patienten, die aufgrund ihrer Adipositas eigentlich eine OP ­bräuchten.

 

Ein „leistungsabhängiger“, protestantischer Ansatz, der Motivation prüfen soll …

Ja, aber oft zum Scheitern verurteilt. Und zu kurz gedacht. Für die Kassen ist das eine Kostenfrage. Aber die Folgeerkrankungen durch die Adipositas sind sicher deutlich teurer in der Behandlung als die OP. Es ist auch nicht jede/r geeignet. Es gibt ja nicht nur einen Adipositas-Typen, und die OP ist auch kein Wundermittel.

 

Was sind die Fallstricke der chirurgischen Behandlung?

Manche verharren in der lebenslang gelernten, passiven Haltung. „Da ist wieder was passiert mit mir, und ich weiß gar nicht was“ – damit muss man als Erstes aufhören! Stattdessen Eigeninitiative ergreifen, sich aktiv Hilfe holen. Mein ganz persönlicher Rat: sich so gut wie auch nur möglich an die Empfehlungen halten! Aber die Informationen sind ja alle da, auch psychologische Begleitung, Selbsthilfegruppen, Ernährungsberatung, etc. stehen zur Verfügung. Das wünsche ich mir wirklich: Dass Betroffene sich einfach ermutigt fühlen, sich Hilfe zu holen. Egal wie alt sie sind – es lohnt sich immer!

 

Vielen Dank für das Gespräch!

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